Das Landgericht Gießen hat in einem Beschluß vom 28.06.2012 (7 Qs 63/12) entschieden, dass sich ein Arzt einer psychiatrischen Klinik nicht strafbar macht, wenn er nichts zur Verhinderung eines frei verantwortlich begangenen Selbstmordes unternimmt, auch wenn der betreffende Patient wegen Suizidgefahr überwiesen wurde.

Das Landgericht Gießen führt aus, das die Mitverursachung eines Selbstmordes grundsätzlich ebenso straffrei ist wie die fahrlässige Ermöglichung der eigenverantwortlichen Selbsttötung. So könne auch derjenige, der mit Gehilfenvorsatz den Tod eines Selbstmörders mitverursache, nicht bestraft werden. Schon dies verbiete aus Gründen der Gerechtigkeit, denjenigen zu bestrafen, der nur fahrlässig eine Ursache für den Tod eines Selbstmörders gesetzt habe. Aus der Straflosigkeit von Anstiftung und Beihilfe zur Selbsttötung folge zwingend, dass der Garant, der nichts zur Verhinderung des frei verantwortlichen Suizids unternehme, ebenfalls straffrei bleiben müsse.

Das Landgericht Gießen weist aber darauf hin, dass eine straflose Beteiligung am Suizid allerdings nur dann in Betracht kommt, wenn die Willensbildung des Suizidenten einwandfrei sei und der Selbsttötungswille fortbestehe. Bei der hierzu vorzunehmenden Beweiswürdigung sei jedoch der Grundsatz in dubio pro reo zu beachten. Zwar könne, so das Landgericht Gießen, nach den Erkenntnissen der Suizidforschung von einem eigenverantwortlichen Handeln des Lebensmüden nur in Ausnahmefällen ausgegangen werden, Zweifel an der Eigenverantwortlichkeit könnten jedoch eine Strafbarkeit nicht begründen, sondern müssten – wie stets – zugunsten des Angeklagten wirken. Das Landgericht Gießen führte hierzu weiter aus: „Auch wenn sich aufgrund des vorliegenden Gutachtens des Sachverständigen vom 05.09.2011 Zweifel an einem eigenverantwortlichen Handeln des Patienten ergeben, kann am Ende nicht die Feststellung getroffen werden, der Patient habe sich nicht eigenverantwortlich das Leben genommen. So ist nach Einschätzung des Sachverständigen bei dem Patienten zur Tatzeit die Diagnose einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen zu stellen. Die Psychose, die nach Einschätzung des Sachverständigen in Vordergrund stand, beruhte auf der wahrhaften Überzeugung des Patienten, er habe sich beim Rangieren mit Rattengift im Frühjahr 2010 Gesundheitsschäden zugezogen. Ausreichend schwere psychische Symptome können, wie der Sachverständige überzeugend aufgezeigt hat, zu einer Aufhebung der freien Willensbildung führen. Jedoch befand sich der Patient genau an der Grenze zwischen einer freien Willensbildung und dem Verlust des freien Willens durch psychotisch aufgezwungene Handlungen. Diese Annahme stützt der Sachverständige insbesondere auf die wiederholte Aussage eines Patienten, er wolle leben, habe aber Angst davor, sich etwas anzutun. Damit distanzierte sich das gesunde Ich von Suizidabsichten, wobei das gesunde Ich zugleich das Andrängen psychotischer Handlungsimpulse bemerkte und hierauf mit Angst reagierte. Da sich der Patient im Grenzbereich von eigenverantwortlicher Willensbildung und ausgeschlossener Eigenverantwortlichkeit befand, müssen sich überwindbar bestehende Zweifel an der Eigenverantwortlichkeit seines Handels notwendig zugunsten der Angeschuldigten auswirken.

RA Daniel Amelung